SCHWERE FRONTLENKER-LKW MIT KUBISCHEM FAHRERHAUS
Format zeigte die Daimler-Benz AG auf der IAA im September 1963 sowohl bei den Pkw als auch bei den Lkw: Gab es bei den Limousinen den ersten Mercedes 600 zu bewundern, so beeindruckte die Nutzfahrzeugsparte in der schweren Klasse durch den neuen Frontlenker LP 1620. Schon die Typenbezeichnung verriet, dass sich ein Umbruch im Denken vollzogen hatte. Es verschwanden nun schwer zu enträtselnde und wenig sagende Baumuster-Bezeichnungen (wie zum Beispiel „LP 333“). An ihre Stelle traten transparente Kürzel, deren erste zwei Ziffern sich auf die Tonnage und deren letzte zwei Ziffern sich auf die Nennleistung beziehen.
Und auch nur ein flüchtiger Blick aufs kubisch gestaltete Fahrerhaus verriet obendrein, dass zwischen den vorigen Frontlenkern und dieser neuen Reihe Welten lagen. Herrschten dort geteilte Scheiben, hoher Motortunnel und beklemmend enge Verhältnisse beim Einstieg vor, präsentierte sich der neue LP 1620 als wahres Raumwunder mit einem nur 170 Millimeter hohen Motortunnel und mit einem erheblich erweiterten Panorama vom Fahrerarbeitsplatz aus. Ein deutlich gewachsener vorderer Überhang schaffte zudem Platz für die zwei einladend breiten Stufen des Einstiegs, über die es sich sehr kommod in die gute Stube huschen ließ.
ZENTRALE PRODUKTION IN WÖRTH
Der Kontext war vielschichtig, innerhalb dessen das Werk mit dem neuen LP 1620 auf gewaltig geänderte Rahmenbedingungen reagierte. Es zeichnete sich zweierlei ab: Zum einen wurden die Kapazitäten von Daimler-Benz in Mannheim (mittlere Lkw) und Gaggenau (schwere Klasse) dem zu erwartenden höheren Produktionsbedarf nicht mehr gerecht. Deshalb fiel denn 1964 auch der Beschluss, in Wörth eine zentrale Produktion zu installieren und Mannheim auf die Lieferung von Motoren, Gaggenau hingegen auf die Lieferung von Achsen und Getrieben zu verpflichten.
Sowieso legte sich Daimler-Benz zu jener Zeit darauf fest, im Pkw-Bereich ab der oberen Mittelklasse tätig zu sein, bei den Nutzfahrzeugen hingegen als Generalist aufzutreten. Diese Strategie sollte Früchte tragen: Das Wachstum bei den Nutzfahrzeugen zwischen 1960 und 1970 spricht für sich – von 64.478 auf exakt 196.149 Einheiten kletterte die Produktion in diesem Zeitraum.
Zum anderen aber griff die Politik mal mehr, mal weniger rigide – aber immer leicht unberechenbar – dem Lauf der Dinge beim Lkw in die Speichen. Verkehrsminister Seebohm hatte das Transportgewerbe in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre mit radikalen Einschnitten bei den zulässigen Maßen und Gewichten hinreichend geschockt. Musste seine radikalen Pläne aber bald wieder etwas lockern. Seit 1960 war in Deutschland nun eine Gesamtlänge von 16,5 Metern (statt zwölf Metern wie geplant) möglich. Auch ließ sich die Beschneidung auf 24 Tonnen Gesamtgewicht nicht dauerhaft durchsetzen. 32 Tonnen immerhin bildeten ab 1. Juli 1960 das Maximum.
KUBISCHE KABINE ALS NACHFOLGER
Doch eines war klar: Am Frontlenker als – der Längenbeschränkungen wegen – dem Hauber überlegenen Transportmittel führte künftig kein Weg mehr vorbei. So war es nur logisch, dass jenes durchdachte kubische, alles in allem vom Leicht- bis zum Schwer-Lkw durchkonjugierbare Kabinenkonzept mit viel Erfolg die Nachfolge der insgesamt doch eher inselartigen Frontlenker-Lösungen aus den 50er-Jahren antrat.
Eine kippbare Kabine allerdings konnte der neue LP 1620 noch nicht sein Eigen nennen. Die kam bei diesem kubischen Fahrerhaus erst anno 1969 zugleich mit den neuen V-Motoren. Doch hatten die Konstrukteure zumindest dafür gesorgt, dass für Wartungs- und Reparaturarbeiten das umständliche Entfernen der Motorhaube flachfallen konnte, ohne das dies bei den Vorgängern nicht ging. Möglich machte das eine stattliche Anzahl verschiedenster Klappen auf Hüfthöhe des Fahrerhauses. Zwei solche Öffnungen barg die Front.
Und auch der Einstieg ließ sich anfangs nach vorne, ab 1965 dann elegant nach oben wegklappen. Auf diese Weise war sichergestellt, dass viele Arbeiten wie beispielsweise das Einstellen der Einspritzpumpen oder der Check der Keilriemenspannung ohne ein Öffnen der Motorabdeckung im Fahrerhaus drinnen vonstatten gehen konnte.
NEUERUNGEN BEI BREMSSYSTEM UND LÜFTER
Als besondere technische Neuheiten, denen im Rahmen einer steten Modellpflege viele weitere folgen sollten, gaben die Konstrukteure dem LP 1620 gleich zu Beginn seiner Karriere Finessen wie eine Hydro-Kugelmutterlenkung statt der bisher verwendeten Hydro-Schneckenrollenlenkung und eine Zweikreis-Zweileitungsbremse mit auf den Weg. Dieses neue Bremssystem förderte frische Druckluft auch während des Bremsens ins System und bannte damit endlich jene bei der traditionellen Einleitungsbremse stets latente Gefahr, dass die Bremsen bei langen Gefällstrecken auf Grund zu geringen Drucks versagten.
Ein Wachwechsel fand auch beim Lüfter statt. Anstelle der früheren, per Keilriemen angetriebenen und stetig Leistung fressenden Ventilatoren trat im PL 1620 ein moderner Visko-Lüfter von Behr, der thermostatisch gesteuert war und erst bei Bedarf zur Tat schritt.
Das sparte zwar ein Quäntchen Sprit, konnte aber doch nicht kaschieren, dass die Tage der Vorkammermotoren im schweren Lkw gezählt waren. Verglichen mit den modernen Direkteinspritzern fielen sie allmählich ein wenig auf – ihrer Trinksitten wegen. So kam es, dass Daimler-Benz den altgedienten, 200 PS starken Vorkammermotor OM 326 im LP 1620 bereits ein Jahr nach der Vorstellung des Fahrzeugs durch den neuen Direkteinspritzer OM 346 ersetzte.
Mit seinem Vorgänger teilte dieses Aggregat praktisch nur den Motorblock sowie den Hubraum von 10,8 Litern. Beträchtliche Investitionen flossen in die 210 PS leistende Neukonstruktion ein, die mit höherem Mitteldruck arbeitete und deshalb modifizierte Ansaugwege, Verbrennungsräume und Kolben brauchte. Doch lohnte sich die Mühe: Der Verbrauch sank damit um bis zu einem Viertel, einer weiteren Steigerung der Leistung war der Weg gebahnt. Und: Von Kinderkrankheiten blieb das neue Aggregat fast gänzlich verschont. In puncto Zuverlässigkeit stellte er seinen Vorgänger, der die Gewährleistung gern auf Trab gehalten hatte, fast auf Anhieb in den Schatten.
Dass es bei 210 PS indes nicht bleiben konnte, dafür sorgte allein schon die Politik mit ihrer Forderung nach sechs PS pro Tonne. Da sich allmählich der Wandel vom 32- zum 38-Tonner vollzog, hatte auch die Leistung des neuen Direkteinspritzers zu steigen. 1967 kam schließlich die 230-PS-Version, zwei Jahre später vergrößerten die Motorenkonstrukteure den Hubraum auf 11,6 Liter und sattelten weitere zehn Pferdestärken drauf.
DIE FAMILIE WÄCHST
Mittlerweile hatte sich um den LP 1620 von anno 1963 eine ansehnliche Familie an modernen Frontlenkern schweren Kalibers gebildet. Das Spektrum reichte von speziell für leichte Einsätze wie den Möbeltransport konzipierten LP 1418 bis hin zu dreiachsigen Motorwagen und Sattelzugmaschinen für fast jeden denkbaren Einsatz. Legendär sind bis heute jene besonderen dreiachsigen, mit zwei gelenkten Vorderachsen ausgestatteten Sattelzugmaschinen, die als LP 2020 bis 2024 ab 1967 die Nachfolge des „Tausendfüßler“ genannten LP 333 angetreten hatten. Sie brachten beste Fahreigenschaften und geringsten Reifenverschleiß trefflich unter einen Hut.
Auch hatte der Kunde bereits seit 1956 die Wahl zwischen dem ursprünglichen und einem um 200 Millimeter verlängerten Fahrerhaus mit zwei fest eingebauten Liegen, deren Breite oben 600, unten hingegen komfortable 730 Millimeter maß. Zudem war in der kürzeren Kabinenvariante die ursprünglich einteilige Klappliege einer zweigeteilten Variante gewichen, von der während der Fahrt nur ein Teil hochgestellt werden musste. Das schaffte zusätzlichen Ablageplatz für all die Siebensachen, die auf großer Fahrt mit von der Partie waren. Um weitere und besonders luxuriöse Kabinenvarianten kümmerten sich zudem externe Aufbauer wie Doll und Wackenhut.
Eine Spezialität allerdings blieb den Lkw mit dem kubischen Fahrerhaus versagt: allradgetriebene Zwei- und Dreiachser. Da sich das Aufkommen der „Neuen Generation“ im Lauf der Zeit abzeichnete und da eine eigene, weitere Frontlenker-Entwicklung parallel zu den gut eingeführten Kurzhaubern nicht lohnenswert erschien, griff das Werk zu einer unkonventionellen Lösung: Es stattete die bereits vorhandenen Frontlenker aus dem Hause Henschel, an dem Daimler-Benz seit 1968 mit 51 Prozent die Mehrheit hielt, kurzerhand mit den neuen V8- und V10-Motoren sowie den ebenfalls neuen Außenplanetenachsen aus und war auf diese Weise eben doch mit allradgetriebenen Frontlenkern präsent.
PRÄSENTATION NEUER MASCHINEN AUF DER IAA
Die neuen V-Motoren der Baureihe 400 waren in den Lkw mit kubischem Fahrerhaus bereits ab 1969 zu haben. In Frankfurt präsentierte Daimler-Benz auf der IAA neue zwei- und dreiachsige Motorwagen sowie Sattelzugmaschinen, die mit diesem neuen Aggregat aus der neu konzipierten Baureihe 400 bestückt waren. Mit 320 PS erfüllte der neue V10 die von Verkehrsminister Leber erhobene Forderung nach acht PS pro Tonne, die dann aber doch noch im letzten Moment nicht in Kraft trat. Mit diesen neuen V-Motoren gab es die Kabine nun in kippbarer Version. Zu erkennen war das kippbare Fahrerhaus an den tief, bis auf Höhe des Stoßfängers heruntergezogenen Türen sowie an dem etwas erhöhten Dach.
Es folgte auf den 320 PS starken V10 mit wuchtigen 16 Liter Hubraum bald eine leichter bauende Variante in Gestalt des 1972 eingeführten V8 mit 12,8 Liter Hubvolumen, der es auf eine Nennleistung von 256 PS brachte. Parallel dazu hielt sich aber auch der 240 PS starke Reihensechszylinder OM 355 weiterhin wacker und begleitete die Baureihe munter bis ans Ende ihrer Tage, das mit wenigen Ausnahmen aufs Jahr 1974 datiert. Nur bestimmte Exportmodelle sowie die an der Hinterachse luftgefederten Varianten blieben bis 1975 im Programm. Der leichte LP 1424 als Nachfolger des 1418 konnte sich noch ein wenig länger gegen die 1973 eingeführte „Neue Generation“ behaupten und rettete sich gar ins Jahr 1976, bevor auch für ihn die Lichter ausgingen.