MITTELSCHWERE FRONTLENKER-LKW
Lange Zeit stand Daimler-Benz den Frontlenkern äußerst skeptisch gegenüber, wagte dann aber doch Mitte der 50er-Jahre den Schritt hin zu diesem Konstruktionsprinzip, auf das vor allem ausländische Kunden zunehmend Wert legten. Als erster Frontlenker ab Werk feierte der LP 315 im Juni 1955 Premiere. Kein Geringerer als der Fernverkehrsbestseller L 315, hervorgegangen aus dem L 6600 – seinerseits die erste Lkw-Neukonstruktion nach dem Krieg – sollte als Basisfahrzeug dienen.
Dessen Kennzeichen waren: spartanisch ausgestattete kurze Kabine; eine von anfangs 6,2 Tonnen (als L 6600 anno 1950) auf 7,2 Tonnen gewachsene Nutzlast (beim L 315 von 1954), Vorkammerdiesel OM 315 mit 145 PS. Es gab im Lauf der Zeit zwar Bestrebungen, den Hauber L 315 doch noch mit einem Fernfahrerhaus zu versehen. Zusammen mit Wackenhut bosseln die Ingenieure an einer Art Kurzhauber, bei dem der Motor ein Stück weit in das Fahrerhaus hineinragt.
Auf diese Weise hofften die Tüftler, eine Fernverkehrskabine herausschlagen zu können, ohne Abstriche bei der Ladefläche machen zu müssen. Über das Stadium des Prototyps kam die neue Entwicklung allerdings nicht hinaus. Schule machte dieses Verfahren dann freilich bei den Kurzhaubern, die Daimler-Benz ab 1958 sowohl in schwerer Version als auch in der mittelschweren Klasse bauen sollte.
Wer den Hauber L 315 dennoch als Frontlenker und mit langer Schlafkabine haben wollte, der kam nicht darum herum, selbst Hand anzulegen oder anlegen zu lassen. Fahrzeugfabriken wie Wackenhut, Schenk, Kässbohrer oder Kögel waren darauf spezialisiert, Hauber-Fahrgestelle zu Frontlenkern umzubauen und ihnen eigene Fahrerhäuser und Aufbauten zu verpassen. Was durchaus mit einiger Arbeit verbunden war. Hatte doch nicht nur der Sitz nach vorn zu rücken und die Lenksäule steiler zu stehen. Auch die Pedalerie musste mit nach vorn wandern, und am Schaltgestänge galt es ebenfalls zu bosseln.
DER HAUBER ENDLICH ALS FRONTLENKER AB WERK
So war es für Daimler-Benz trotz aller Skepsis gegenüber dem Frontlenker nur logisch, die Option auf Fahrzeuge dieser Bauweise endlich auch ab Werk zu bieten. Zumal Mitte der 50er-Jahre die internationale Nachfrage nach Frontlenkerkabinen deutlich zunahm und kommende, sehr restriktive Vorschriften für Maße und Gewichte dieser Konstruktion auch in Deutschland kräftigen Rückenwind bescherten.
Das „L“ in der Typenbezeichnung des LP 315 steht wie gewohnt für „Lastwagen“, während das neu hinzutretende „P“ nun „Pullman“ bedeutet. Der Begriff stammt aus dem amerikanischen Eisenbahnbau: Als „Pullman-Trains“ hatten einst stromlinienförmige Personenzüge des Erfinders George Mortimer Pullman in den USA Furore gemacht.
Von der anderen Seite des Schwarzwalds ließ sich das Werk in Gaggenau die Pullman-Kabinen zuliefern, die im Prinzip einzig für den Export vorgesehen waren. Doch dauert es nicht lange, bis erste Exemplare auch mit deutscher Zulassung ihre Bahn zogen. Wackenhut mit Sitz in Nagold hatte diese langen Fahrerhäuser mit Schlafkabine nach Vorgaben von Mercedes entwickelt und sollte die ersten Frontlenker-Fahrerhäuser auch noch einige Jahre bauen, bis Daimler-Benz deren Fertigung selbst in die Hand nahm.
Weiche Rundungen verliehen dieser Konstruktion eine sympathische Anmutung, Anklänge an das Frontdesign der Mercedes-Omnibusse waren wahrscheinlich durchaus beabsichtigt. Für den Fahrer aber bedeutete es einen Rückschritt, dass nun ein Motortunnel wuchtig ins Innere seines Reichs hineinragte und der Motor sich dort natürlich auch besonders deutlich zu Gehör brachte.
MEHR LUXUS IN DER KABINE
Andererseits bot ihm die große Kabine einen Luxus, den er im kurzen Fahrerhaus des Haubers L 315 vergeblich suchte. Zwei Liegen beherbergt die LP-Kabine in ihrem Heck. „Bei Ruhepausen oder während Nachtfahrten können die hinteren Sitze mit ein paar Handgriffen in zwei bequeme Liegestätten verwandelt werden“, hob ein zeitgenössischer Prospekt die Vorteile der langen Kabine hervor. Überhaupt saß der Fahrer zu dieser Zeit noch selten allein im Lkw. Da war es schon von Nutzen, dass die LP-Kabine „vier Personen reichlich Platz bietet“, wie der Prospekt außerdem betonte.
Aber auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sprach einiges für den neuen Frontlenker, den das Werk dank der kompakten Bauweise des Fahrerhauses gleich serienmäßig mit sechs Meter langer Pritsche liefern konnte. Zum Vergleich: Der Hauber L 315 fuhr beim Kunden serienmäßig nur mit Fünfmeterpritsche vor.
Ein etwas knapperer Radstand als beim Hauber (4.200 statt 4.600 Millimeter) kam obendrein der Nutzlast zugute. „Achsbelastung noch günstiger“ brachte das die Werbung auf den Punkt. Woraus beim LP 315 satte 8,2 Tonnen Nutzlast resultierten. Das war deutlich mehr als beim Hauber L 315. Und mit dieser Nutzlast spielt der LP 315 trotz seines zulässigen Gesamtgewichts von 14.900 Kilogramm denn auch schon in einer ganz anderen Liga, in die der Hauber nie vorstoßen konnte: in der Liga der teuren Flaggschiffe mit 16-Tonnen Gesamtgewicht und 180 bis 200 PS starken Motoren, in der sich immerhin sechs deutsche Hersteller tummelten. Doch kostete solch ein 16-Tonner ungefähr 50.000 Mark, während der LP 315 bereits für rund 35.000 Mark zu haben war. Die Preisdifferenz von 15.000 Mark entsprach zu dieser Zeit immerhin dem Wert eines kompletten dreiachsigen Anhängers.
WENDIGKEIT ERHÖHT
Die kompakte Bauweise des LP 315 und der kürzere Radstand äußerten sich zudem in erhöhter Wendigkeit. Statt 18,5 Meter wie beim Hauber waren es beim Frontlenker LP 315 nur rund 17 Meter, die das Fahrzeug für eine Kehre brauchte. In Fragen von Wartung und Reparatur war dem LP 315 der starr montierten Kabine wegen aber im Vergleich zum äußerst wartungsfreundlichen Hauber ein eher sperriges Wesen zu Eigen. Zwar pries das Werk als Vorteil an, dass der Motor mühelos vom Inneren des Wagens aus, und zwar „sozusagen unter Dach“, gepflegt werden könne.

Doch schon fürs Nachfüllen von Öl galt es jedes Mal, die an der Rückwand in Scharnieren gelagerte Motorabdeckung nach oben zu klappen. Eine Übung, die dem Fahrer schnell in Fleisch und Blut übergegangen sein musste: Den Ölverbrauch des OM 315 beziffern Werkangaben auf 0,4 Liter pro 100 Kilometer. Es sei sogar möglich, ist im Prospekt zu lesen, „bei eingebautem Motor den Zylinderkopf abzunehmen“. Doch führt bei größeren Reparaturen am Motor des LP 315 kein Weg daran vorbei, den Sechszylinderdiesel erst mal nach vorn auszufahren.
Die Produktion dieser ersten Frontlenker lief bis 1957. Der LP 315 war in verschiedenen Radständen als Pritschenwagen, Kipper, Sattelzugmaschine sowie als Fahrgestelle lieferbar und hielt sich nicht nur beim Motor, sondern auch beim Rest der Technik strikt an die bewährten Gegebenheiten des Haubenbruders L 315: Sechsgang-Klauengetriebe, 70 km/h Höchstgeschwindigkeit sowie U-Profil-Rahmen mit blechgepressten Quertraversen.
Der Zuspruch, den dieser erste Frontlenker ab Werk fand, blieb indes zögerlich. Produzierte das Werk vom Hauber L 315 zwischen 1950 und 1958 exakt 13.735 Einheiten, so erreichte der Frontlenker LP 315 in der ihm zugewiesenen Spanne bis 1957 eine Stückzahl von 2.480 Exemplaren.
GESAMTGEWICHTPALETTE AUSGEDEHNTER AB 1958
Als 1958 die Kurzhauber kamen, dehnte das Werk die Palette an parallel dazu produzierten Frontlenkern sukzessive bis hinab auf ein Gesamtgewicht von 7,4 Tonnen aus. Schwergewichtigster Vertreter der in Mannheim produzierten mittelgroßen Fronlenker war der LP 327 (später LP 1413 genannt), der es auf 14 Tonnen Gesamtgewicht brachte und mustergültig demonstrierte, wie sich die 300er-Motorenbaureihe entwickelte: Nach 110 PS aus dem 5,1 Liter großen OM 321 kamen ab Herbst 1961 126 PS aus dem 5,7 Liter großen OM 322. Es folgten ab Januar 1964 weiterhin 126 PS aus 5,7 Litern, aber aus den Vorkammermotoren waren sparsamere Direkteinspritzer wie dieser OM 352 geworden. Ab 1966 gab es gar 150 PS, die beim OM 352 A per Turboaufladung möglich geworden waren. Ab 1963, als die Typen-Nomenklatur heutiger Prägung eingeführt wurde, trat dieser schwerste aller Frontlenker-Mittelklässler also als LP 1413 auf.
So wurde auch LP 710 aus LP 323, LP 911 aus L 328, und LP 1113 aus LP 332. Nur logisch also, dass die Motorisierung des LP 332 die gleichen Schritte vollzog wie die des LP 327 respektive LP 1413. Den Neuntonner LP 328 versah das Werk genauso wie den 7,5-Tonner allerdings mit anderen Aggregaten. Zu Beginn war es der Vorkammerdiesel OM 321, der dort mit jeweils 100 PS seinen Dienst tat. Ab 1962 ersetzte dann serienmäßig im Neuntonner der neue OM 321 den vorigen 4,6-Liter Motor. Der OM 321 hatte 5,1 Liter Hubraum und leistete 110 PS. Der musste anno 1964 wiederum dem Direkteinspritzer OM 352 mit ebenfalls 110 PS weichen. Im 7,5-Tonnen-Frontlenker bleib es bis 1964 beim alten Vorkammerdiesel OM 312. Ab Juni 1964 bekam er dann auch den neuen Direkteinspritzer OM 352, allerdings mit einer Leistungseinstellung von weiterhin 100 PS.
KONTINUIERLICHER FAMILIENZUWACHS
Die Familie der mittelschweren Frontlenker wuchs bis zu ihrem Ende im Jahr 1969 kontinuierlich. Mit Acht-, Zehn-, Zwölf- und 15-Tonnern schloss das Werk im Lauf der Zeit konsequent all jene Lücken, die das anfängliche Grundprogramm geboten hatte. Doch griff die Kundschaft immer noch weit lieber bei den Haubern zu. Gut 32.000 Hauber (4x2 und 4x4) produzierte das Mannheimer Werk zum Beispiel von den Haubern der Reihen 323/710, während es das Frontlenkerpendant nur auf knapp 5.300 Einheiten brachte. Die höchste Stückzahl unter den mittelgroßen Frontlenkern erzielte der Elftonner L 322/LP 322: Ihn produzierte Mercedes insgesamt 15.698-mal. Aber auch hier waren die Produktionszahlen der Hauber weitaus größer: Der L 322/L1113 erreichte exakt 61.290 Einheiten während der gemeinsamen Bauzeit von 1958 bis 1969.