INTERVIEW KAY MORSCHHEUSER

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Aktive Sicherheit im Fokus

Kay Morschheuser, Leiter Nutzfahrzeug-Unfallanalysen, über die Fortschritte in der Sicherheitstechnik – und wohin die Reise künftig gehen wird.

Herr Morschheuser, aktive und passive Sicherheit haben in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Sprung nach vorn gemacht. Wie hat die Verkehrssicherheit davon profitiert?

Morschheuser: Das Fahren ist deutlich sicherer geworden. Die Statistik sagt, dass seit Anfang der 90er Jahre die Zahl der bei Lkw-Unfällen Getöteten um ungefähr 60 Prozent und die Zahl der Schwerverletzten um 45 Prozent zurückgegangen ist. Und das bei um 80 Prozent gestiegener Transportleistung.

Trotzdem machen bestimmte Häufungen von Unfällen mit Lkw immer wieder Schlagzeilen. Wie ist das zu erklären?

Morschheuser: Es kann schon vorkommen, dass sich Unfälle phasen- oder ortsweise häufen. Haben wir lange Schönwetterphasen, sind zum Beispiel mehr Fahrradfahrer unterwegs. Und Baustellen, besonders auf Autobahnen, erhöhen das Risiko auf ihre Weise.

Brennpunkte des Unfallgeschehens beim Lkw sind aber nach wie vor Auffahrunfälle und Abkommen von der Fahrbahn?

Morschheuser: Die Vermutung liegt nahe, dass sich da etwas geändert haben könnte. So ist es aber nicht. Die folgenschweren Unfälle sind insgesamt viel weniger geworden, ihre Verteilung der Unfallart nach ist aber fast gleichgeblieben.

Dabei zielen doch inzwischen ja auch vorgeschriebene Systeme wie Spurwächter oder automatisches Notbremsen auf genau diese Unfalltypen. Wie ist es denn um Ausstattungsquote und Wirksamkeit bestellt?

Morschheuser: Mercedes-Benz hat ja beim Actros schon vor längerem bestimmte Sicherheitspakete gebracht. Es hat zwar etwas Zeit gebraucht, bis die auch in größerem Umfang angenommen wurden. Anfangs lag die Ausstattungsquote bei ungefähr zehn Prozent. Aber inzwischen können wir bei den Straßenrollern die erfreulich hohe Zahl von 60 Prozent feststellen.

Wie schlägt sich das in der Statistik nieder?

Morschheuser: Da lassen sich leider keine seriösen Aussagen treffen. Wir kennen die Unfälle, wissen beim besten Willen aber nur sehr wenig über die vermiedenen Unfälle. So fehlt es ganz einfach an einem geeigneten Bezugspunkt. Sicher ist gleichwohl, dass nicht nur dem Notbremsassistenten, sondern auch schon dem lang zuvor gebrachten Abstandsregeltempomaten eine positive Wirkung zuzuschreiben ist.

Fast etwas aus dem Blickfeld geraten ist die passive Sicherheit im Lkw. Sind die Möglichkeiten ausgereizt?

Morschheuser: Die aktive Sicherheit steht heute sicher mehr im Fokus. Aber wir haben mit dem neuen Actros auch bei der passiven Sicherheit noch einmal einen Quantensprung gemacht, vor allem was die Crashsicherheit angeht. Die heutige Simulationstechnik eröffnet auch da immer wieder neue Möglichkeiten. Die größeren Erfolge bei der weiteren Reduktion von Toten und Verletzten sind aber von aktiven Systemen zu erwarten.

Ist der Partnerschutz ausbaufähiger als der Eigenschutz?

Morschheuser: Ganz klar. Das Risiko beim Unfall ist ungleich verteilt. Bei den Unfällen mit schlimmen Folgen für den Fahrer haben wir einen sehr niedrigen Stand erreicht, der sich nicht mehr signifikant drücken lassen wird. Für Unfälle, die zum Beispiel Radfahrer oder Fußgänger durch rechtsabbiegende Lkw erleiden, gilt das nicht. Da hilft einzig und allein das Vermeiden solcher Unfälle. Abbiege- oder Spurwechselassistent, wie jüngst vorgestellt, bringt Fortschritt.

Blind Spots in der Sicherheitstechnik sind trotzdem noch Dinge wie Abkommen von der Fahrbahn auf der Landstraße, Spurführung in Autobahnbaustellen oder Begegnungsunfälle. Wie sieht es mit der Entwicklung entsprechender Systeme aus?

Morschheuser: Unter dem Stichwort "Autonomes Fahren" ist einiges in Entwicklung, wovon die Verkehrssicherheit sehr profitieren wird. Lenkungsunterstützung könnte dem Abkommen von der Fahrbahn auch außerhalb der Autobahn effektiv entgegenwirken. Der Spurwächter von heute nützt auf Landstraßen zum Beispiel der kurzen Reaktionszeit wegen ja nur bedingt. Für Autobahnbaustellen wird es künftig Systeme geben, die mit richtiger Spurführung arbeiten. Bei Begegnungsunfällen oder zum Beispiel auch Kreuzungsunfällen wird man weiter ausholen müssen. Da wird der Kommunikation Car to Car sowie Car to Infrastruktur eine Schlüsselrolle zukommen.

Wenden wir den Blick zurück. Was waren Ihrer Meinung nach die Meilensteine für aktive und passive Sicherheit beim Lkw?

Morschheuser: Bei der aktiven Sicherheit denke ich da in erster Linie an Zweikreisbremse, ABS und EBS. Im Bereich passive Sicherheit wären wohl Gurt und Airbag zu nennen.

Der Nutzen des Airbag im Lkw ist aber doch lang nicht so hoch wie im Pkw?

Morschheuser: Er spielt – eher im Verborgenen – trotzdem eine eminent wichtige Rolle. Denn erst mit der Entwicklung des Airbag kamen systematische Crashversuche und somit wertvolle Erkenntnisse zum Crashverhalten. Da hatte der Airbag eine Art Katalysatorfunktion und gezeigt, wie man zum Beispiel mit in den Sitz integrierten Gurten weiterkommen kann.

Wenn Sie jeweils einen Wunsch freihätten an Legislative und Techniker, wie würde das lauten?

Morschheuser: Bei Ersterem muss ich nicht lange überlegen. Abstandsvergehen sollten viel schärfer unterbunden werden. Die Techniker lassen eigentlich kaum Wünsche offen. Wenn es da nicht so schnell wie gewünscht vorangeht, dann liegt das eher daran, dass die Zeit eben noch nicht reif ist.

Was wäre an Durchbrüchen noch zu wünschen?

Morschheuser: Die Unfallzahlen sind heute schon auf einem solch niedrigen Stand, dass richtig große Sprünge nach unten nicht mehr zu erwarten sind. Ähnlich wie beim Verbrauch geht es jetzt eher darum, an einer Vielzahl kleiner Stellschrauben auch in der Peripherie zu drehen. Da geht es dann zum Beispiel auch darum, wie ein Fußgängerüberweg am Kreisverkehr so zu platzieren ist, dass ihn der Lkw-Fahrer bestmöglich vor dem Abbiegen im Blickfeld hat.

Vita Kay Morschheuser

Kay Morschheuser studierte Maschinenbau und begann seine Arbeit als Unfallforscher im Jahr 1986 als Mitarbeiter bei der Unfallforschung an der medizinischen Hochschule in Hannover. 1988 wechselte er zu Mercedes-Benz und war zunächst als Versuchsingenieur im Bereich "Sicherheitsuntersuchungen Nutzfahrzeuge" tätig. Es folgten Grundsatzuntersuchungen und Machbarkeitsanalysen zum Airbag (Transporter wie Lkw) sowie dessen Umsetzung in die Praxis bei Actros und Atego. 1998 avancierte Morschheuser zum Leiter des Fachgebiets Unfallanalysen/Sicherheitsstrategien der Entwicklung Lkw-Europa. Seit 2004 arbeitet er als Teamleiter für diese Bereiche.