FAHRVERGLEICH LEICHTE LKW

Sind sie nicht süß, die Kleinen? Treuherzig schauen sie aus. Und doch machen sie ihren Job schon immer so gut wie die Großen.

ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN

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Klein, aber fein: Genau das haben leichte und mittlere Lkw zu sein. Seit jeher agieren sie als dienstbare Geister, die ihre Arbeit eher unauffällig verrichten. Urbanes Pflaster und nähere Umgebung lautet ihr Revier. Da ist es heutzutage geradezu Pflicht, eine freundliche Miene zu zeigen und weder anzuecken noch sonstwie besonders aufzufallen. Frei nach der Moritat von Mackie Messer aus Brechts Dreigroschenoper lautet die Devise: Die einen sind im Lichte. Die andern sieht man nicht.

Klein, aber oho: Nicht nur als braves Arbeitstier fährt in Gestalt des L 311 der Senior in diesem besonderen Vergleich vor. Geht es um seine Rolle in der Wirtschaftswunderzeit, wäre das Prädikat „Everybody‘s Darling“ sicher nicht zu hoch gegriffen. Und geht es um seine Rolle in der Lkw-Historie, so kann er für Mercedes-Benz als Glücksfall gelten, der eine ganz entscheidende Rolle beim gut gelungenen Neustart in den Nachkriegsjahren gespielt hat.

Mehr Sein als Schein: Zwar rollt der L 311 in Mannheim vom Band. Doch ist er vom Charakter her vielleicht schon eher Schwabe. Seine Reize kehrt der Mittelklässler jedenfalls nur zögerlich heraus. Und da die Zeiten auch in den 50er-Jahren noch lange nicht so üppig sind wie im Jahrzehnt darauf, teilt sich der auf Sparsamkeit bedachte L 311 sein Fahrerhäusle gleich auch noch brüderlich mit der im badischen Gaggenau gefertigten Schwer-Lkw-Fraktion. Anno 1958, das ist das Geburtsjahr unseres L 311, hat schon längst eine Stahlkabine mit gefälligen Rundungen die spartanischen Holzfahrerhäuser aus der unmittelbaren Nachkriegszeit abgelöst.

Ein Langhauber, als welcher der 311er die Vorkriegstradition noch fortführt, hat zwei Vorteile. Für Wartung und Reparatur genügt es, einfach die Haube zu öffnen. Und drinnen in der Kabine, da stört kein Motortunnel. Zudem sitzt der Fahrer schön eingebettet zwischen den Achsen und muss vor allem die Stöße der Vorderachse nicht wie im Frontlenker aus nächster Nähe erleben. Einigermaßen niedrig kann der Einstieg dann sowieso ausfallen.

Und so sind es denn gerade mal knapp 900 Millimeter, die den Fahrerhausboden von Mutter Erde trennen. Hoch anzutreten hat dennoch, wer den L 311 entern will. Denn die erste und einzige Stufe des Einstiegs siedelt in gut 600 Millimeter Höhe. Von Komfort hat der L 311 schon an dieser Stelle einen eher spartanischen Begriff. Dann heißt es noch schnell die restlichen 292 Höhenmillimeter zurückzulegen, um die der Kabinenboden jene hoch angesiedelte Stufe noch überragt, bevor mit den weiteren Eigenarten dieses legendären Veteranen Bekanntschaft geschlossen werden kann.

Die Kabine: Eigenwillig ist gleich einmal die Position des Handbremshebel. Der sitzt zur Linken des Lenkstocks und versperrt in ausgezogenem Zustand somit ungeniert den freien Zugang zu dem, was damals „Kartenfach“ hieß und heute Türfach genannt würde. Der Uhren gibt es vier, und rechts daneben sitzt ungefähr ein Dutzend Kleinteiliges: Schalter, Leuchten, Zündschloss. Das Starten der Maschine verlangt nach Ritual, handelt es sich beim unter der Haube schlagenden Herz des L 311 um einen Vorkammermotor. So verstreicht erst einmal ein Minütchen mit Vorglühen, bevor der dafür zuständige Hebel per Hineindrücken Leben in die Bude bringt. Polternd setzen sich die sechs Zylinder des 4,6 Liter großen OM 312 in Bewegung, eifriges Gasgeben formt langsam, aber sicher einen einheitlichen Klangteppich aus den anfangs eher sporadischen Salutschüssen des Vorkammerdiesels. Sein Zwerchfell entfesselt einen dröhnenden Bass, der den Schluss nahelegt: Heavy Metal gab es damals schon.

Handbremse gelöst, die auf Dauer wadenmordende Kupplung gedrückt und den Gang per zweifach gekröpften Schaltknauf eingelegt: Flugs nimmt der L 311 Fahrt auf und löst ein gewisses Kopfschütteln aus: Was der Prospekt seinerzeit als„weitgehend vor Erschütterungen und Fahrgeräuschen geschützt“ beschreibt, ist für heutige Maßstäbe als kräftiges Durchrütteln und ohrenbetäubender Lärm anzusprechen. Und so, wie die Kabine eben nur auf Gummipuffern sitzt und das Fahrwerk mit seiner harten und viellagigen Trapezfedern jede Unebenheit der Bahn durchreicht, um nicht zu sagen sogar verstärkt, ist eines klar: Nur Desperados drücken im L 311 stärker auf die Tube als unbedingt notwendig. Spurrinnen heutiger Façon lassen den L 311 allerdings gänzlich ungerührt. Das wird aber kein Verdienst des Fahrwerks, sondern eher der geringen Spurweite des Gefährts zuzuschreiben sein. Sie beträgt gerade mal 1700 Millimeter.

Wer aber weiß, um wie viel störrischer und lauter die Vorkriegs-Lkw sich noch gebärdeten, dem stellen sich die Dinge anders dar. So merkt zum Beispiel Hans-Arnold König, seinerzeit Tester für lastauto omnibus, im Jahr 1950 zum L-311 an, der da noch L 3500 heißt: „Lebendig, kraftvoll, geschmeidig und wendig, alles Eigenschaften, die man sonst nur einem Pkw mit Vergasermotor zuzuschreiben gewohnt ist.“ Und weiter: „Er lässt sich tatsächlich so fahren wie ein Pkw.“ Wenn‘s sein muss, prescht dieser kleine Laster, dessen Hinterachse mit i = 5,72 übersetzt ist, auf seinen hochbeinigen Pneus der Größe 8,25 R 20 im direkt übersetzten fünften Gang aber auch mit gut 90 Sachen bei Nenndrehzahl 3000/min durch die Lande.

Brandneu ist der vollgasfeste Motor OM 312 (09) mit seinem Öl-Wasser-Wärmetauscher, und der hat es in sich. Erst 90, dann 100 PS aus 4,6 Liter Hubraum sind damals eine Sensation. Nicht weniger staunen die Zeitgenossen über die hohe Nenndrehzahl, die aus dem sonst so schwerblütigen Diesel eben einen echten Renner macht. Diese Maschine beruht auf einer ganz neue Entwicklung, mit der das Werk schon vor dem Krieg begonnen hatte, die aber erst 1949 abgeschlossen werden kann. Den OM 312 bringt Mercedes-Benz erstmals anno 1949 im L 3250, der auf der Hannoverschen Messe Premiere feiert. Und ihm wie auch dem neuen Fahrzeug schlägt ein begeistertes Echo entgegen. Noch einmal Hans-Arnold König: „Und nun zum Hauptmerkmal: Die Lebendigkeit und Stärke der Motorkraft! Der Tester muss gestehen, dass er verblüfft war über die unglaubliche Durchzugskraft dieses 4,6-Liter-Dieselmotors.“

Ein Diesel mit der Literleistung eines Benziners, aber dem Verbrauch eines Selbstzünders: Das ist es, was den OM 312 seinerzeit so einzigartig macht. Nicht minder auf schlanke Linie und maximale Fitness getrimmt ist das Fahrzeugkonzept des L 3500 im allgemeinen: So viel weniger Eigengewicht als Nutzlast wie der L 3500, den das Werk im Jahr 1955 in L 311 umbenennt, hat kein anderer damaliger Diesel-Lkw.

L 3500 und L 311 mit dem OM 312 unter der Haube sind es seinerzeit auch, die den Grundstein für die spätere globale Nutzfahrzeugpräsenz des Konzerns legen. Erste CKD-Chassis (Completely knocked down) liefert das Werk schon 1950 nach Brasilien. Es folgt 1954 ein sogenanntes Technical Aid Agreement mit der Tata Engineering and Locomotive Company in Indien, das Zusammenarbeit beim Vertrieb und die Errichtung eines Montagewerks für Mercedes-Benz-Lkw ab drei Tonnen vorsieht.

Ebenfalls 1954 bringt Mercedes-Benz den 4,6-Liter-Sechszylinder sogar schon in einer aufgeladenen Version. OM 312 A heißt dieses 115 PS starke Triebwerk, das aber vor allem für die Feuerwehr gedacht ist. Die steht dem Diesel damals noch äußerst skeptisch gegenüber, den ihr nun dieses Plus an Leistung schmackhaft machen soll. Für den normalen Fuhrbetrieb sind diese frühen Turbomotoren aber noch nicht reif, weil den Ladern die Standfestigkeit fehlt: Sie sind praktisch bei jedem Ölwechsel zu tauschen.

Für die Stückzahlen des Mittelklasse-Renners in der Nachkriegszeit spielen die Turbomotoren kaum eine Rolle. Insgesamt aber produziert Mannheim vom L 311 in all seinen Varianten zwischen 1949 und 1961 gut 56.000 Einheiten. Den noch erfolgreicheren L 312 (ab 1953 produziert) dazugenommen, der für 4,5 Tonnen Nutzlast konzipiert ist und sich vom L 311 hauptsächlich nur durch größere Bereifung unterscheidet, beläuft sich das gesamte Produktionsvolumen gar auf rund 130.000 Stück. Damit ist ein Pflock eingeschlagen: Die damit errungene Führung in der Mittelklasse wird Mercedes-Benz bis auf den heutigen Tag behaupten.

Sie zu verteidigen, eignet sich der Langhauber L 311 aber schon in seinem Geburtsjahr 1958 nur noch bedingt. Genau zu dieser Zeit tritt Verkehrsminister Seebohm mit radikalen Beschränkungen auf den Plan, die zwar hauptsächlich die schwere Klasse treffen, aber auch für die mittleren Lkw nicht ohne Folgen bleiben. Es kommen auch dort ab 1961 die sogenannten Kurzhauber, mit denen die Schweren schon seit 1958 vorausmarschieren. L 1113 lautet die Typenbezeichnung des meistverkauften Mittelklässers aus dieser Epoche und zeigt damit zunächst einmal Eines: 3,5 bis 4,5 Tonnen Nutzlast sind jetzt schon nicht mehr das Maß der Dinge.

Geboten sind beim L 1113 stattdessen ungefähr 6,5 Tonnen. Auch sonst zeigt das Fahrzeug eine viel erwachsenere Statur als der L 311. Da ist zum Beispiel nicht nur die Spurweite von 1700 auf nun 1900 Millimeter gewachsen, mit der er den Spurrillen von heute schon eher auf den Leim geht. Es hat sich auch die Motorisierung schwer gemausert. Der Hubraum des 300er-Motors klettert bereits im Jahr 1959 von 4,6 auf 5,1 Liter. Dahinter stecken 95 statt der vorigen 90 Millimeter Bohrung sowie weiterhin 120 Millimeter Kolbenhub. Heraus kommen dabei für die nun OM 321 genannte Maschine 110 PS.

Ab Herbst 1961 gibt es für die Bohrung noch einmal einen Nachschlag in Höhe von zwei Millimetern, den Hub gar acht Millimeter mehr. Macht den OM 322 (12), der bei 5,7 Liter Hubraum und maximal 126 PS anlangt. Drei Jahre später, im Jahr 1964, folgt die Umstellung auf Direkteinspritzung, die an den Eckdaten des Motors und seiner Nennleistung indes nichts ändert.

Wohl aber klingt der Sound ganz anders. Und beim Startprocedere entfällt das Vorglühen. Es genügt, die Zündung einzuschalten und den kleinen Startknopf des L 1113 zu drücken. Schon legen die sechs Töpfe des L 1113 los und lassen keinen Zweifel daran, was den Direkteinspritzer (OM 352 genannt) vom Vorkammerdiesel unterscheidet: Nicht zu überhören ist das deutlich härtere Verbrennungsgeräusch, das als Preis für weniger Verbrauch zu zahlen ist.

Für die Kabine des Elftonners gilt es, beim Einsteigen (13) zwei Mal hoch anzutreten. 622 Millimeter sind es bis zur ersten Stufe, noch einmal 540 Millimeter drüber liegt der Fahrerhausboden. Dass die kargen Nachkriegszeiten endgültig überwunden sind, ist beim Kurzhauber-Mittelklässler an vielen Details abzulesen. Der umbaute Raum (14) beträgt 3,2 statt 2,1 Kubikmeter wie noch beim L 311. Da findet denn auch ein stattliches dreispeichiges Lenkrad mit 550 Millimeter Durchmesser Platz (L 311: 500 Millimeter), das à la Pkw einen zusätzlichen Chromkranz trägt, der fürs Hupen und fürs Blinken verantwortlich zeichnet.

Ob geblinkt wird oder nicht, zeigen gelbe Kontrollleuchten an, die im rechten der beiden Rundinstrumente sitzen. Was im L 311 noch auf verschiedene Uhren verteilt ist, fasst dieses neue Kombiinstrument (15) zusammen: Öldruck, Bremsdruck, Kühlmitteltemperatur sowie Pegelstand des Tanks. Linkerhand sitzt als weitere Uhr der wohlbekannte Tachograph. Ein Lenkstockhebel betätigt die Motorbremse, Feststellbremse ist nun mit der Rechten zu ziehen. Was drunten im Parterre nach Motorbremsknopf aussieht, das lässt in Wirklichkeit das Fernlicht aufblitzen.

Aufgeräumt statt spartanisch: So ließe sich der Unterschied zwischen der neuen Kurzhauberkabine und dem Fahrerhaus der traditionellen Langhauber vielleicht am besten auf einen kurzen Nenner bringen. Blechern bleibt allerdings der Klang, mit dem die Türe zufällt. Und hat der Motor erst einmal seine Arbeit aufgenommen, geht es innendrin zwar etwas weniger geräuschvoll zu als im Langhauber L 311, dem Gehör von heute ist das aber immer noch eindeutig zu viel.

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Auch sind echte Fortschritte beim Fahrwerk nur mit Mühe auszumachen. Zwar sind die dicken Trapezfedern ein Stück länger geworden, an denen die Achsen hängen. Doch reicht der L 1113, zumindest wenn er unbeladen ist, Fahrbahnunregelmäßigkeiten von nicklichen Autobahnplatten bis hin zum gemeinen Schlagloch immer noch ruppig genug und unverblümt an die Knochen seines Herrn und Meisters weiter. Der L 1113 ist eben als Allrounder konzipiert, der sich in seiner Grundform als Kipper genauso zu bewähren hat wie als Pritschenwagen oder Sattelzugmaschine.

Da hilft es auch nicht viel, dass für die Kabinenfederung vorne nach wie vor zwei Gummipuffer zuständig sind, am Heck aber immerhin schon einmal lange Blattfedern mit Stoßdämpfern werkeln. Auch sind die Pedalkräfte unvermindert hoch, sprechen die Bremsen für heutigen Geschmack zögerlich bis erratisch an. Und beim Lenken geht es nicht ohne Armschmalz. Das Wechseln der weiterhin fünf Gänge vollzieht sich zwar in langen Gassen, jedoch ist das Getriebe jetzt grundsätzlich synchronisiert. Ein bisschen Zwischengas beim Runterschalten miteinzuflechten, erleichtert die Navigation mit dem langen Schaltstock aber allemal spürbar.

Während die Nachfrage nach solchen Kurzhaubern wie dem L 1113 hierzulande im Lauf der Zeit doch deutlich nachlässt, bleibt das Konzept im Export bis in die 90er-Jahre ein Renner. Vor allem der Nahe Osten und Afrika wissen die robuste und leicht zu reparierende Technik zu schätzen und scheren sich nicht viel um Komfort. CKD-Sätze dieser Fahrzeuge sollen sogar noch bis nach der Jahrtausendwende in Länder wie Saudi-Arabien, Malaysia und Nigeria sowie Südafrika zur Montage vor Ort gegangen sein.

In Deutschland gewinnt der Fronlenker derweil zunehmend an Boden. Schon Mitte der 50er-Jahre waren unter der Bezeichnung „LP“ erste, mit rundlicher Kabine versehene Frontlenker-Pendants gekommen. Der Buchstabe „P“ steht dabei für „Pullman“ und spielt auf gleichlautende Luxuswagons aus dem angelsächischen Raum an. Viel Zug ist aber noch nicht hinter dieser ersten Generation an Frontlenker-Lkw, bei denen vor allem ein schiefer, unbequemer Einstieg sowie ein gewaltiges Mittelgebirge von Motortunnel zu schaffen machen. Das ändert sich erst, als anno 1963 eine ganz neue Familie an Frontlenkern antritt, denen in der mittleren und schweren Klasse das sogenannte Einheitsfahrerhaus gemeinsam ist.

Auch „kubische Kabine“ genannt, definiert dieses Fahrerhaus das Raumangebot mit extrem flachem Motortunnel ganz neu. Und ist zudem eben über die gesamte Gewichtsklassen-Palette durchdeklinierbar. Allen voran marschiert ab 1963 der neue 16-Tonner LP 1620, auf den vielerlei Mittlere von 15 Tonnen Tonnage bis hinab auf 7,4 Tonnen Gesamtgewicht folgen.

Ein echter und besonders leichter Stadtflitzer fehlt aber noch in dieser Kollektion. Der wäre aus zweierlei Gründen wünschenswert: Zum einen konfrontiert selbst der 7,4-Tonner namens LP 710 noch mit einem zweistufigen und relativ hoch ausfallenden Einstieg: nicht des Nahverkehrsfahrers Traum. Zum anderen machen sich die Kommunen just zu dieser Zeit daran, des überbordenden Verkehrs mit unangenehmen Restriktionen à la Fahrverbot für Lkw mit mehr als sechs Tonnen Gesamtgewicht Herr zu werden. So kommt es nicht von ungefähr, dass der 1965 vorgestellte LP 608 den Ball beim Gesamtgewicht entsprechend flachhält und die maximale Tonnage auf 5990 Kilogramm lautet. Möglich werden auf diese Weise rund drei Tonnen Nutzlast beim Pritschenwagen. Und das ist genau ein Wert, nach dem viele Kunden schon lange fragen, denen der LP 710 mit seinem Sechszylinder-Diesel und einer halben Tonne mehr an Wagengewicht einfach ein zu schwerer Brocken ist.

Fahrerhausboden mit insgesamt 990 Millimetern gerade mal so hoch wie beim zierlichen Langhauber L 311: Diesen günstigen Wert schafft der Einstieg des neuen LP 608 durch den konstruktiven Kunstgriff einer weit nach vorn gezogenen Vorderachse, die es möglich macht, den Einstieg in ihren Rückraum zu verpflanzen. Weiterer Vorteil dieser Konstruktion, speziell unter beengten Verhältnissen: Die Tür muss bei weitem nicht so sperrangelweit öffnen wie bei den Fahrzeugen mit vor der Vorderachse angebrachtem Einstieg, um dem Fahrer Durchschlupf zu gewähren.

Flott huscht es sich also hinein in den Stadtflitzer LP 608, ebenso flott ist der neue vierzylindrige Direkteinspritzer per Startknopf zu Leben erweckt. Der 3,8-Liter-Vierzylinder namens OM 314 meldet sich nicht gerade in der Sprache der feinen Viertel zu Wort und nimmt auch kein Blatt vor den Mund. Sitzt er doch unter einem Motortunnel, der 310 Millimeter hoch in die Kabine hineinragt und eine aufwändige Isolierung nicht sein Eigen nennen kann.

Genaugenommen handelt es sich bei ihm um einen OM 352 à la L 1113, dem eben zwei Zylinder amputiert sind. Der lange Hub ist der Laufkultur zweifelsohne abträglich. Der OM 352 neigt zum Krakeelen. Erfolgreiche Versuche gab es zwar, dem Vierzylinder per zwei Ausgleichswellen etwas bessere Manieren beizubringen. Allein verhindert das Diktat der Kosten, dieses Verfahren in die Serie umzusetzen.

So sind es eben eher proletarische Töne, die der Gassenjunge LP 608 anschlägt, wenn er in Fahrt gerät. Auch beim Fahrverhalten erweist er sich als einer, dessen Metier eher das Hemdsärmlige ist. Unebenheiten scheint das Fahrwerk eher noch zu verstärken, das weiterhin mit steifen Trapezfedern arbeitet und jedenfalls ebenso kräftig austeilt, wie es einzustecken hat. Schmalhans spielt eben auch bei Fahrerhauslagerung den Küchenmeister. Gummiblöcke sind das einzige, was der LP 608 in dieser Hinsicht aufzutischen hat.

Doch ist es zugleich beeindruckend, wie einfach zu fahren der Benjamin unter den Mercedes-Lkw ist und wie behände er sich durchs urbane Gewühle bewegen kann. Tadellos und leicht lässt sich zum Beispiel das extra für ihn neu entwickelte Fünfgang-Synchrongetriebe G 20 schalten. Ein fixer Bursche ist er zudem. Im fünften Gang kommt der 80 PS starke LP 608, je nach Hinterachsübersetzung, entweder auf 79 oder 94 km/h an Endgeschwindigkeit. Das drückt die Drehzahl im Stadtverkehr oder bei Überlandfahrt dann im Verein mit Isolation aus Steinwolle, sogenannten Schwerdämm- und Filzmatten als Kabinenisolierung doch auf Werte, die der Geräuschkulisse außerordentlich guttun. Tadellos obendrein die Sichtverhältnisse. Das Werk preist sie seinerzeit als „320 Grad von theoretisch möglichen 360 Grad“.

Und so rustikal wie unverwüstlich sowohl Motor als auch Fahrwerk sich geben, ist der LP 608 seinerzeit doch in vielen Detail ein hochmoderner Vertreter seiner Zunft. Mit 52 Grad maximalen Lenkeinschlags unterbietet er den Wendekreis von manchem seiner sternbetressten Pkw-Kollegen aus den 60er-Jahren sogar noch um ein paar Zentimeter. Der beste unter den Lkw jener Zeit muss sich in dieser Disziplin glatt um zwei Meter geschlagen geben.

Als erstes Großserien-Nutzfahrzeug überhaupt fährt der LP 608 darüber hinaus mit einer Drehstromlichtmaschinen vor. Was nichts Geringeres bedeutet, als dass Ladestrom auch schon bei Leerlaufdrehzahl fließt. Sehr von Vorteil auf der Kurzstrecke. Auch bei der Bereifung prescht der Bonsai-Laster vor: 7.00 R 16 lautet die Schuhnummer der Pneus, die als Gürtelreifen ausgeführt sind und seinerzeit ausschließlich aus der Haute Cuisine französischer Backformen bezogen werden können.

„Innere Sicherheit“: So nennt Mercedes in den Zeiten aufkeimender Studentenproteste das, was heute unter „passive Sicherheit“ firmiert. Von Sicherheitsgurten kann zwar noch keine Rede sein. Doch machen Stoßwülste an der Brüstung, Polsterung aller vorstehenden Griffe und Knöpfe sowie versenkte Kippschalter schon mal einen munteren Anfang. Und draußen herrscht Verzicht auf jedwede vorstehenden Teile.

Was Ausstattung und Komfort angeht, korrespondiert damit beim Interieur der kubistisch inspirierten Kabine konsequenter Minimalismus. Nur noch zweispeichig präsentiert sich das Lenkrad dem Fahrer. Das schnurgerade Armaturenbrett ist frei von jeglichem Firlefanz. Als serienmäßige Grundausstattung aber kann die Kabine immerhin mit zwei Kleiderhaken, Aschenbecher sowie Innenleuchte und Handschuhfach innerhalb von ihren knapp 2,9 Kubikmetern umbautem Raum dienen. Kippbar ist die Frontlenkerkabine des kleinen LP 608 allerdings bis ans Ende ihrer Tage im Jahr 1984 nicht.

Freimachen muss deswegen den direkten Weg zum Motor und seinem Stutzen fürs Einfüllen von Öl eine Klappe auf dem Motortunnel. Gibt‘s umfassende Arbeiten an der Maschine zu tätigen, dann geht das so: „Am Dach des Fahrerhauses“, so der werksseitige Hinweis, „fällt eine verschraubte Klappe auf.“ Die weitere Instruktion lautet: „Durch die Öffnung hindurch wird der Flaschenzug geführt, mit dem man den ausgebauten Motor nach unten ablassen kann.“

Das ändert sich erst, als im Jahr 1984 die Fahrzeuge der Baureihe LN 2 alias LK (Leichte Klasse) das Licht der Welt erblicken. Da schlägt Mercedes bei den Leichten in fast jeder Hinsicht ein vollkommen neues Kapitel auf. Der leichte LP hat als etwas solitäre Lösung für anfangs drei Tonnen Nutzlast und knapp sechs Tonnen Gesamtgewicht, später dann bis hinauf zu knapp elf Tonnen Gesamtgewicht das Haus Mercedes zum echten Vollsortimenter bei den Lkw gemacht. Nun, Mitte der 80er-Jahre sind die Karten aber neu gemischt. Seit 1973 macht sich im schweren und mittelschweren Segment die Neue Generation breit, die bei Technik und Konzeption die LP-Reihe weit hinter sich gelassen hat.

Da wird es allen Erfolgen der kleinen LP, die wie im Fluge die Marktführerschaft in ihrer Klasse erobert haben, anno 1984 höchste Zeit, dass die Leichten nachziehen. Was aber bleibt, das ist die Konzentration auf leichte Tonnagen, die jetzt von 6,5 bis elf Tonnen Gesamtgewicht reichen und später sogar bei 15 Tonnen anlangen werden. Was kommt, ist eine nagelneue Kabine und vollkommen neue Technik.

Das Äußere des Fahrerhauses hält gekonnt die Balance zwischen den Schwer- und Leichtgewichten des Konzerns: Zeigt andeutungsweise den für die Schweren typischen Knick auf halber Höhe des Gehäuses sowie deren dunkel abgesetzten, rechteckigen Breitbandgrill. Von den Transportern entlehnt ist die nach vorn abfallende Seitenscheibe, die sich im Lauf der Zeit die Gewichtsklassen noch weiter hochhangeln und als markentypisches Charakteristikum bis hin zur 1988 gebrachten Schweren Klasse (SK) durchsetzen wird.

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Mit ihr kommt bei den Instrumenten auch eine Finesse, mit der ein LK den Fahrer schon von Anfang an verwöhnen kann. Die Rede ist von Durchlichttechnik bei den Instrumenten, deren Layout sich bei den Leichten sonst aber ganz an den Gegebenheiten im der damals aktuellen Schwer-Lkw der Neuen Generation 80 orientiert: hinterm zweispeichigen Lenkrad ein dreiteiliges Paneel mit Drehzahlmesser im Zentrum, zur Linken vom Tachographen, zur Rechten vom mercedes-typischen Kombi-Rundinstrument für Öl- und Bremsdruck sowie Kühlmitteltemperatur und Tankanzeige flankiert. Neu für die Leichte Klasse, aber ebenfalls schon aus den Schweren bekannt ist ein links aus dem Lenkstock herausragender Kombischalter für Scheibenwischer, Wischwasch und Fernlicht.

Weiterhin genügt dem Einstieg des LK, in bester LP-Tradition, ein einstufiger Einstieg. Dank serienmäßiger Niederquerschnittsbereifung (beim 814 die Größe 215/70 R 17,5) – das ist ein seinerzeit ein weltweites Novum beim Leicht-Lkw – reicht der Fahrerhausboden sogar ein Tick weiter herab als beim LP 608. Sind‘s dort 990 Millimeter Höhe, so kommt das Parterre des 814 dem Fahrer mit nur 930 Millimeter Höhe noch weiter entgegen. Sind die überwunden und ist auf dem nun nicht mehr starren, sondern gefederten Fahrersitz Platz genommen, beweist der neue Leichte mit seinen gut 2,9 Kubikmeter umbautem Raum in der kurzen Kabine gleich beim Starten ein unkompliziertes Naturell: Der vordem dafür zuständige Knopf ist passé; es genügt ein simpler Dreh mit dem Zündschlüssel.

Was dann als sonorer Sound in den Gehörgang sickert, lässt aufhorchen und aufatmen zugleich. Insgesamt 50 Kilogramm Dämm-Material haben die Konstrukteure in dem Fahrerhaus des 814 versenkt. Und das zeigt Wirkung. Den Begriff „Säuseln“ hat sich die Klangkulisse zwar noch nicht verdient, doch tilgt die sorgfältige Isolation zumindest all die unangenehmen Frequenzen effektiv, die einem im LP 608 noch sehr schnell und gründlich auf die Nerven gehen.

Zurück geht das freilich in nicht zu knappem Anteil auch auf die neuen Motoren, die bei der Leichten Klasse den Vortrieb liefern. Im 814 zum Beispiel bleibt es beim Vierzylinder. OM 366 heißt dort der neue Direkteinspritzer jetzt, der es mit 97,5 Millimeter Bohrung bei einem Hub von 133 Millimeter auf sechs Liter Hubraum und 136 PS bringt. Zu haben ist er übrigens auch als OM 366 A in aufgeladener Version, die dann mit 170 Pferdestärken dienen kann.

Weiterhin basiert das Verbrennungsverfahren – exakt wie bei der ersten Generation der Direkteinspritzer im LP 608 – auf zylindrischer Verbrennungsmulde im Kolben und den bewährten Vierlochdüsen. Doch sind die Ansaug- und Abgaswege neu konzipiert und in Anlehnung an die Technik der neuen V-Motoren aus der Baureihe 400 ausgeführt. 45.000 Stunden auf dem Prüfstand und 5,5 Millionen Erprobungskilometer im Fahrversuch haben sie hinter sich, bevor die Serienproduktion anläuft.

Weicher Lauf, zurückhaltender Klang und ein noch wie dagewesenes Durchzugsvermögen sind der Lohn all dieser Mühen. Aus heutiger Perspektive und im direkten Vergleich mit den krachledernen Vorgängern kann durchaus gelten: Moderne Zeiten bei den Leichten, sie fangen mit den LK-Lkw à la 814 an. Da wird auch die Elektrik erwachsen. 24 statt der bisherigen 12 Volt im Leichten lautet nun die Devise.

Vorbei ist es nun auch mit den rustikalen Federungskonzepten im Unterbau. An der Lenkachse geben Parabelfedern ihren Einstand, im Heck ist gar extra für den LK das Prinzip der sogenannten Stützblatt-Hinterfeder entwickelt. Dabei handelt es sich um beim 814 um eine zweistufige Hauptfeder mit Luftspalt zwischen den Lagen (verhindert Reibung und Korrosion). Darunter liegt als Zusatzfeder ein parabolisch ausgewalztes Stützblatt, das bei Bedarf die Kräfte über Gummipuffer auf die darüberliegende Hauptfeder überträgt. Gleich, welche Gemeinheiten die Fahrbahn auch parat hält: Zwischen dem Fahrkomfort eines 814 und dem seiner Vorgänger liegen Welten.

Der Vergangenheit gehört nun mit der kippbaren Kabine auch die kleinteilige Klappenwirtschaft der vorigen LP für Wartung und Reparatur an. Hinter der Frontklappe findet der Fahrer leicht zugänglich so gut wie alle Trichter, die er braucht. Fürs Wechseln der Dieselfilter oder intensivmedizinische Eingriffe an den Eingeweiden ist die Kabine kippbar. Das kurze Fahrerhaus per Muskelkraft um 45 Grad. Das in der Leichten Klasse nun erstmals gebrachte lange Fahrerhaus, das diese Gattung somit auch fernverkehrstauglich macht, neigt sich gar um 55 Grad und kann von Beginn an schon mit einer eine Hydraulikpumpe dienen, die dem höheren Gewicht der Schlafkabine komfortabel Rechnung trägt.

Reine Druckluftbremsen statt hydraulischem Systems: Nicht zuletzt damit zieht die Leichte Klasse mit ihren schwereren Brüdern gleich, denen sie zudem eines voraushat, was erst der neue Actros von 2011 wieder aufgreifen wird: beige Farbtöne im Innenraum (beim 814 Türfüllungen sowie Himmel), die warme Atmosphäre verströmen und wohnliches Ambiente schaffen.

So weit zieht der Atego von heute dann aber nur bedingt mit dem neuen Actros gleich. Obwohl er es ihm in mancher Hinsicht gleichtun will. Aber das Mittelfeld bei den Lkw ist vermintes Gelände. Mittelmaß soll das Fahrzeug nicht sein. Andererseits ist der Markt relativ klein. Nicht einmal halb so groß wie der für schwere Lkw. Die Kunden sind obendrein noch preisbewusster als die der schweren Klasse. Und halten die Fahrzeuge auch noch eine kleine Ewigkeit. Deshalb entschied sich Daimler dafür, den Atego für Euro 6 grundlegend zu aktualisieren. An Modellpflege gab es ja vorher schon einiges: Im Jahr 1998 gebracht, 2004 an den Actros 2 angepasst, 2010 noch einmal in Richtung Actros 3 umgemodelt – da hat das Fahrzeug keineswegs Staub angesetzt. Damit ist die Produktpalette komplett auf Euro 6 umgestellt - mit Actros, Antos und Arocs über 18 Tonnen, mit dem neuen Atego bis 16 Tonnen zGG.

In einem ganz entscheidenden Punkt machte der Atego seinen Entwicklern und Konstrukteuren die Umstellung auf Euro 6 viel leichter als der Actros: Er war schon immer auf Reihenmotoren eingeschworen und hat seit jeher das dafür passende Fahrerhaus.

Weil die neuen Vier- und Sechszylinder in Euro 6 aber etwas höher ausfallen als die Vorgänger in Euro 5, sitzt das Gehäuse nun aber doch ein Stück weiter oben als zuvor. Und innendrin hat sich einiges getan. Wobei keine Geringeren als die großen Brüder Actros und Antos Pate gestanden haben. Es erinnert wie schon beim Exterieur vieles an die Großen. Als Vorbild fungierten sie ganz klar bei Multifunktionslenkrad, beim Handbremshebel sowie bei den Tapeten. Die Sitzstoffe zum Beispiel sind die gleichen wie bei den großen Brüdern Actros, Arocs und Antos. Und auch die aufwändigen Kaltschaum-Matratzen hinten im Schlafgemach entsprechen dem, was vom neuen Actros her schon bekannt ist.

Die Instrumententafel aber zum Beispiel übernimmt jetzt den Look, aber nicht die Tiefe der Uhren wie im Actros. Die Actros‘schen Tuben sind per chromgefasster Bordüre zwar angedeutet, doch sitzen die Uhren nun einmal auf planem Grund. Auch geht der Gleichschritt mit dem Actros nicht so weit, dass der Atego auch noch das asymmetrische Armaturen-Layout der Schweren von Mercedes übernimmt.

Da hält er sich lieber und aus gutem Grund an den vom Vorgänger her bekannten und mit dem Actros 2 erstmals eingeführten symmetrischen Grundriss mit einer eleganten Ausbuchtung in der Mitte. Zusammen mit dem hohen Motortunnel würde das auf Beifahrerseite auch kaum funktionieren. Und die Trennung in Wohn- und Arbeitswelt ist beim Atego generell weniger das Thema.

So kommt es auch, dass er innendrin zwar auch zweifarbig antritt wie der neue Actros, die Verteilung der Farben aber anders ins Werk gesetzt ist. Da ist der Himmel zwar hell, aber grau. Die Beifahrerseite kommt Ton in Ton mit der Fahrerseite durchgängig dunkel daher. Was nicht nur den Vorteil hat, dass Schmutz weniger aufträgt: Dieser optische Kunstgriff vermittelt dem Auge darüber hinaus auch gleich einmal einen besonders geräumigen Eindruck.

Tatsächlich geizt die Hochdachausführung auch keineswegs mit Raum. In Hochdachausführung gibt es gut 1,9 Meter Stehhöhe vor den Sitzen. Damit kommt der Atego locker auf eine Handbreit mehr an Stehhöhe innen als der neue Actros in Streamspace-Space-Ausführung. Insgesamt sind beim Hochdach-Atego 8 Kubikmeter umbauter Raum geboten: Gerade mal sieben Prozent weniger als beim Actros mit schmaler Streamline-Kabine und Motortunnel. Auch beim Stauraumangebot steht der Hochdach-Atego so schlecht nicht da, obwohl es schon an einem von außen zugänglichen Fach fehlt. Mit 370 Litern geschlossenen Stauraums passt zumindest das Nötigste für die eine oder andere Nacht in der Ferne schon unter Dach und Fach.

Im Fokus bei den Mittelklässlern steht aber nun einmal das häufige Ein- und Aussteigen. Somit bleibt es auch für den neuen Atego- beim typischen und bewährten Konzept des besonders niedrigen Einstiegs, der auf einem vorn gekröpften Rahmen basiert. 300 Millimeter hoch die erste Stufe beim hier gefahrenen Atego 1230, exakt 290Millimeter weiter droben die zweite Stufe, dann noch einmal 310 Millimeter genommen: Das ist gerade mal ein Meter, bevor die gute Stube geentert ist. Kein schlechter Wert für ein Fahrzeug, das mit rund 1,91 Meter Stehhöhe innen und langer Kabine einiges an Fernverkehrstauglichkeit zu bieten hat.

Auch an der äußeren Gestalt des neuen Atego hat sich mit bei der Euro-6-Version von 2014 einiges getan. Bei der Neumodellierung seines Gesichts kommt es beileibe nicht nur darauf an, das Design auf hinreichende Ähnlichkeit mit dem neuen Actros zu abzustimmen. Denn obwohl Mercedes für die mittleren Motoren in Euro 6 sogar schon einen günstigeren Basisverbrauch (rund fünf Prozent) im Vergleich zu den Vorgängern reklamiert, bekommt der neue Atego fast das volle Programm an zusätzlichen durstzügelnden Maßnahmen. Die Mittel sind überall die gleichen: optimierte Aerodynamik und automatisierte Getriebe (optional mit vorausschauendem Tempomaten) wie sie der Atego nun serienmäßig mit auf den Weg bekommt.

Form und Funktion reichen sich beim neuen Atego entsprechend intensiv die Hand. Die neue Eckbeplankung zum Beispiel arbeitet mit jenen weiten Radien, die der Aerodynamik zugute kommen. Und auch die untere Kante des Stoßfängers steht ganz im Zeichen der Optimierung des Luftstroms. Äußerliche Ähnlichkeit zum neuen Actros stellen außerdem markante Elemente wie der gepfeilte Kühlergrill samt dem typischen Lochgitter dahinter sowie das trapezförmige Mittelteil im Stoßfänger her.

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Den Zündschlüssel gedreht (einen Start-Stopp-Knopf wie im Actros gibt es nicht), zeigt sich schnell, was für ein Pfund der Atego in Euro 6 mit den neuen Motoren unterm Blech der Kabine stecken hat. Common-Rail-Einspritzung, vier Ventile pro Zylinder sowie doppelte obenliegende Nockenwelle sind die Charakteristika der neuen Motoren, die nun außer mit SCR-Kat nun auch noch mit Abgasrückführung daherkommen. Damit soll nicht nur der Grundverbrauch um bis zu 5 Prozent, sondern der Adblue Verbrauch auch gleich auf bis zu 2,5 Prozentsinken. Vorbildlich niedrig ist auf jeden Fall die Geräuschkulisse. Common-Rail schafft eine weiche Verbrennung, die jeden der dafür so berühmten Vorkammermotor von einst vor Neid erblassen ließe.

Mit der automatisierten Schaltung (Mercedes Powershift 3) gestaltet sich das Thema „Vortrieb“ für den Fahrer denkbar einfach: Gas geben und Lenken ist alles, was zu tun bleibt. Genau 299 PS liefert der potenteste der neuen Sechszylinder bei Nenndrehzahl: Damit sind zwölf Tonnen Gesamtgewicht äußerst sportlich motorisiert. Und die Laufkultur des Sechszylinders ist bemerkenswert. Einblatt-Parabelfeder vorn und Luftfederung hinten heben den Fahrkomfort in denkbar angenehme Sphären. Ob Wummerbeton-Autobahn oder Schlaglochpiste: Der Atego 1230 gleitet souverän drüber weg.

Geht‘s ums Verzögern, packt die neue Motorbremse ungewöhnlich kräftig zu. Auf 75 Prozent mehr Brems-Power als in den Vorgängermotoren beziffert Mercedes ihre Kapazität der doppelt getakteten Dekompressionsbremse, die beim Sechszylinder 320 Brems-PS erreicht. In der sogenannten Premiumvariante, die zudem den Turbolader heranzieht, um es dem Kolben bei seiner Fahrt zum oberen Totpunkt besonders schwer zu machen, stehen gar 408 PS als Bremsleistung zur Verfügung. Keine Wünsche offen lässt auch der Schaltkomfort von Powershift 3. Gekonnt nimmt die Automatik zum Beispiel beim neuen Klauengetriebe G 140-8 die Motorbremse zu Hilfe, um die Drehzahl des Motors an die des Getriebes anzupassen, wenn‘s ums Raufschalten geht.

Ganz neu sind beim Atego in Euro 6 zudem die Lenkung und die Anbindung der Hinterachse. In Verbindung mit der neu abgestimmten Vorderachse arbeitet die neue Kugelumlauflenkung vorzüglich: Selbst schwere Schläge dringen kaum bis ins Volant durch. Und dennoch arbeitet die Lenkung mit hoher Präzision und schön direkt. Das Fahrerhaus selbst ruht nun serienmäßig auf einer vor dem nur optional erhältlichen Vierpunktlagerung. Die hält dem Fahrer zuverlässig das meiste der Unbill vom Leib, die Vorder- sowie Hinterachse vielleicht doch nicht schlucken.
Fazit: Zwar ist dieser neue Atego natürlich kein von Grund auf neues Fahrzeug wie das dreiköpfige Kader aus Actros, Arocs und Antos ist. In das von ihnen neu geprägte Bild der Marke fügt er sich aber prima ein, ohne darüber seine ureigenen Qualitäten zu vergessen. Und: War der Sprung von den leichten LP aus den 60er Jahren zum LK aus den 80ern schon riesig, so trennen jetzt Welten den aktuellen Atego vom LK. Schneller denn je vergeht eben die Zeit. Aber in welchem Tempo auch immer die Welt sich immer schneller drehen mag: Genauso fest steht nach diesem direkten Vergleich von fünf Generationen Mittelklasse-Lkw: Schritt halten kann deren Technik immer locker.